Dr. Wald soll die Batterien wieder aufladen
von Peter Flaig
Professor Iwao Uehara schickt seine Patienten in den Wald. Der Forstwissenschaftler von der Universität Tokio lässt Menschen mit Burn-out zum Beispiel gefällte Bäume schleppen und nur das
essen und trinken, was der Wald so hergibt. Was in Japan seit den 80er Jahren eine anerkannte Heilmethode ist, wird mittlerweile in abgeschwächter Form auch in Europa praktiziert: Shinrin
Yoku, zu Deutsch: Baden in der Waldatmosphäre. Oder einfach Waldbaden.
Therapeut »Dr. Wald«
Hierzulande geht es dabei mehr um eine entschleunigende Freizeiterholung. Das Walderlebnis soll als Form des Wellness-Urlaubs die Batterien wieder aufladen. »Dr. Wald» als Therapeut für
reizüberflutete Multitasker der Moderne? Christine Müller ist so etwas wie die deutsche Pionierin der Waldwellness. Die ärztliche Leiterin des Hotels »Das Kranzbach« bei
Garmisch-Partenkirchen spaziert mit Gästen in den Wald auf eine Yogaplattform und macht dort mit ihnen Atemübungen. »Der Wald ist ein Erlebnisraum, in dem man wunderbar zu sich selbst
zurückfindet.«
Waldbaden im Enztal
Tatsächlich gibt es in vielen Regionen Deutschlands und im Alpenraum zahlreiche Waldbaden-Angebote und vergleichbare Wellness-Aktivitäten. Im Enztal beispielsweise. »Waldbaden«, sagt
Geschäftsführer Stephan Köhl von der Touristik Bad Wildbad GmbH, zu der auch die Touristik Enzklösterle und Höfen gehören, »ist ein wichtiges Thema für das ganze Enztal, denn Waldluft ist
sauerstoffreich, staubfrei, bakterienarm, schenkt innere Ruhe und Freude, stärkt das Herz und vermittlt Inspiration und Vitalität.«
Der Wald spielt etwa in der Niedersächsischen Landesgartenschau 2018 eine Rolle: Bad Iburg hat lokale Führer geschult, damit sie im Waldkurpark in der Nähe des neuen Baumwipfelpfades eine
Sinnesreise moderieren. Im Westerwald und am Klimapfad in Oberstaufen kann man sich beim Waldbaden in eine Hängematte legen. Thüringen hat ein »WaldResort« am Nationalpark Hainich samt
Expeditionen.
Atemwandern am Gletscher
In Österreich entstresst Uli Felber aus Graz Gäste verschiedener Hotels bei vierstündigen Workshops im Wald. In Flims in der Schweiz führt Waldbaden an einen Wasserfall und in Bettmeralp an
den Aletschgletscher. Erholung im Wald ist ein Trend. Selbst am Aletschgletscher ist im Sommer Waldbaden ein großes Thema – in 2000 Metern Höhe mit besonders klarer Luft. Südtirol verknüpft
bodenständige Regionalität mit traditionellen regionalen Heilmitteln. So führt die Hotelchefin und Kräuterpädagogin des »Hotels Gitschberg«, Barbara Peintner, in Meransen ihre Gäste morgens
zum »Atemwandern« in den angrenzenden Wald.
Shinrin Yoku – mehr als Esoterik
Alles nur Esoterik? »Es geht nicht darum, einen Baum zu umarmen«, sagt Martin Kiem. Der Südtiroler Psychologe und Wellbeing Coach geht mit Gästen im Meraner Land in den Bergwald. Langsam
laufen, sitzen, an einen Baum lehnen, erinnern, träumen und die grüne Atmosphäre mit allen Sinnen aufnehmen - das bringe den Geist zur Ruhe. Um das Gesundheitspotenzial des Waldes für sich zu
nutzen, brauche es kein organisiertes Waldbaden oder naturmystische Einstellungen.
Waldbaden mit Bewegung verbinden
Es gibt aber auch in Deutschland medizinische Ansätze: Karin Kraft ist Stiftungsprofessorin für Naturheilkunde der Universitätsmedizin Rostock und begleitet den ersten europäischen Kur- und
Heilwald in Heringsdorf auf Usedom wissenschaftlich. Dort turnen Asthma- und COPD-Patienten in der gesunden Küstenwaldluft an einfachen Geräten. Dass ihnen moderate Bewegung und tiefes
Durchatmen im Heilwald guttun, davon ist Kraft überzeugt.
Aktive Sinnesreisen
Anstrengung im Wald gefällt auch Josef Hartl, Professor an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg. Seinen Forschungen zufolge profitiert man gesundheitlich am meisten vom
Naturerlebnis, wenn man sich dabei aktiv bewegt. Die zahlreichen Waldbaden-Angebote gleichen jedoch eher Sinnesreisen, mit Achtsamkeit statt Action. Nach Ansicht von Hartl ist es wichtig,
Wellness-Angebote mit Heilmitteln der Natur wissenschaftlich zu fundieren, um sie vom Wildwuchs esoterischer Angebote abzugrenzen. Wer skeptisch ist, kann mit einem Wanderurlaub im Wald
anfangen.